Begleittext |
Das eben zu Ende gegangene Jahrhundert war – soviel kann schon im Jahr 1 danach resümiert werden – mit Abstand das bunteste, reichste und vielfältigste, was die Sparte Chorkomposition betrifft. Um das Jahr 1900 öffneten sich die Schleusen der Tonalität, was die Bildung quasi-professioneller Vokalensembles begünstigte oder sogar erforderte. Und der Weg von Reger und Kodály zu Rautavaara oder Gubaidulina ist lediglich einer der vielen Wege in einem Labyrinth von Entwicklungslinien. Wie kommt man nun zu einem überschaubaren „Weltkulturerbe“ der Chormusik? Nun, sämtliche erfolgreich aufgeführte Werke kommen in den Riesentopf, aus dem nur ein sehr kleiner Prozentsatz ins historische Langzeit-Weltrepertoire wandert, dessen Merkmale überregionale Verbreitung und kontinuierliche Aufführungspraxis sind. Es ist die kulturhistorisch verantwortungsvolle Aufgabe der Fachleute, Werke für dieses „Weltrepertoire“ zu nominieren, zur Diskussion zu stellen. Johannes Hiemetsberger hat das mit dem Chorus sine nomine für diese CD höchst spannend getan und provokant betitelt. „Anonymus XX“ – das sind doch solche, die wegen der ungeheuren Vielfalt „anonymisiert“, an den Rand gedrängt werden. … Nun, bei Britten und Poulenc besteht wohl keine Gefahr, beide haben ihren eigenen Chorwerken höchste Bedeutung zugemessen. Doch schon Dallapiccola begegnet man höchst selten, Samuel Barber desgleichen (sein „Adagio for strings“ ausgenommen); Petr Eben und Einojuhani Rautavaara sind in ihren Ländern die prominentesten Meister der zweiten Jahrhunderthälfte und hierzulande völlig unterbelichtet, und zu dem 1944 geborenen Litauer Vytautas Miskinis findet man weder in „Grove's Dictionary of Music“ noch im Internet brauchbare Informationen. Dafür aber sein grandioses, phantasievolles „Pater noster“ auf dieser CD. Und an seiner Seite darf der Österreicher Herwig Reiter hier als heimisches Beispiel für witz- und geistvolle neue Chormusik gelten. So sind dem Hörer dieser CD viele interessante und spannende Neubegegnungen zu wünschen, den Komponisten ein Entkommen aus den „Anonymus XX“ – und den Interpreten viele weitere Entdeckungsreisen dieser Art und auf diesem hohen Niveau.
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